aktueller Name: Pidgirne
Zugehörigkeit: Ukraine
Gründungsjahr: 1815
Kirchspiel: Kulm
Kreis: Akkerman
Religion: evangelisch-lutherisch
Familien: 119
Landmenge: 7.057 ha
Deutsche Bewohner: 1.711
Fremdstämmige: 51

Als Gründungsjahr nennt man das Jahr 1815, doch kamen die Einwanderer schon im Herbst 1814 in Bessarabien an. Da sie aber wegen der Witterung nicht mehr bauen konnten, wurden sie in den nächstgelegenen moldauischen Dörfern untergebracht. Diese Zeit muß für die Siedler recht hart gewesen sein. Im Frühjahr 1815 kamen die Einwanderer, 124 Familien mit 270 männlichen und 250 weiblichen, im ganzen also 520 Seelen auf der ihnen zugewiesenen Steppe an. Die meisten kamen aus Polen, doch waren auch viele aus Preußen und anderen Gegenden Norddeutschlands.
Nach einem ersten Plan sollte das Dorf unten im Tale angelegt werden, unterhalb derselben Stelle, wo es jetzt liegt, auf der rechten Seite des breiten Kogälniktales. Doch entdeckte man bald, dass der Berg gerade an seinem Abhange sehr quellen- und Wasserreich ist, und weil das Land doch meistenteils hoch liegt, also vom Abhang viel leichter zu bearbeiten ist, als vom Tale, so legte man das Dorf dort an, wo es heute liegt, ganz oben am Abhange, in der Richtung von Süd-Osten nach Nord-Westen.

Das Dorf hat nur eine Straße, die über 50 Faden breit und über 3½ Kilometer lang ist. Anfänglich hatte es nur etwas über 2 Kilometer, und zwar 54 Wirtschaftsplätze zu 20 Faden und die nötigen gemeinschaftlichen Plätze. Es waren wohl 124 Familien hier hergekommen, weil aber nur noch 6460 Deßjatinen zur Verfügung standen, so reichte das Land knapp für 108 Familien. Die übrigen 16 Familien wurden teils anderswo angesiedelt, teils blieben sie als Handarbeiter oder Handwerker hier und wurden als Einwohner gezählt.

Mit dem von der Krone gelieferten Baumaterial wurde im Herbst 1815 im Wege der "Eigenleistung" der Häuserbau begonnen. Die ersten Wohnungen waren recht einfach: ein paar Stangen mit Ruten verflochten, mit Gras oder Erde zugedeckt. Wir können uns heute gar keine Vorstellung davon machen, wie armselig der Anfang dieser Einwanderer war. Die meisten waren fast ganz mittellos, nur wenige hatten etwas Vermögen.
Trotz der Unterstützung, die die Regierung gab, und zwar Mehl und Grütze bis zum 1. Juni 1817, Saatgut für die erste Aussaat, ein paar Ochsen, eine Kuh, einen Wagen, einen Pflug, eine Egge, sonstige kleine Geräte und 5 Kopeken Tagegeld pro Seele, war der Anfang doch sehr schwer.

Die ganze Steppe war mit mannshohen Grase, Buschwerk und Unkraut bedeckt, in dem Wölfe, Füchse, Hasen und dergleichen massenhaft hausten. Das Klima, die große Hitze im Sommer, waren die Einwanderer nicht gewöhnt, so dass in den ersten Jahren viele krank wurden und auch starben. Die Beschaffenheit des Bodens kannte man nicht, wußte also nicht, was er trägt und wie er bearbeitet werden musste.
Die erste Aussaat lieferte die Krone und zwar auf die Seele: ½ Maß Winterweizen, ½ Maß Gerste, ¼ Maß Kukurutza (Mais), ¼ Maß Buchweizen, ¼ Maß Hirse, ½ Maß Kartoffeln, 3 Pfund Schnabeln (Bohnen), 3 Pfund Erbsen und etwas Lein- und Hanfsamen. Das Getreide wurde in den ersten Jahren mit Sicheln geschnitten und mit Dreschflegeln ausgedroschen, eine Arbeit, die man heute überhaupt nicht mehr kennt. Später, als die Dreschsteine aufkamen und mit der Sense geerntet wurde, konnte man schon mehr Getreide anbauen. Doch war das Putzen noch sehr schwer und oft sehr zeitraubend.
Die landwirtschaftlichen Geräte waren auch sehr unvollkommen (am Pflug war nur das Schar von Eisen) und gar nicht zu vergleichen mit den jetzigen Hilfsmitteln der Bauerei. Von der großen Steppe wurde im Anfang auch nur ein kleiner Teil bearbeitet. Das übrige Land blieb als Heuschlag oder Weide und nährte große Herden Vieh. Eine Liste aus dem Jahre 1837 zeigt 2200 Stück Hornvieh, mehr als Kulm heute hat, 2643 Schafe, 80 Ochsen und 270 Pferde. Das Vieh war meistens Geld- oder Schmalvieh und bis anfangs der 80er Jahre bildete es die Haupteinnahmequelle der Bevölkerung. Herdenweise wurde das fette Vieh auf den Markt gebracht und immer mit Vorteil verkauft, da man das Heu ja fast umsonst hatte.
In demselben Jahre gab es schon beachtliche Wein- und Obstgärten mit 16 570 Rebstöcken und 14 000 Obstbäumen. Auch wurde der Kulmer Eichenwald neu angepflanzt und brachte der Gemeinde beträchtlichen Nutzen. Die Haupteinnahmequelle in der Landwirtschaft war nach dem Bericht des Schulzenamtes Kulm die Viehzucht und der Weinbau. Die Hänge boten einen guten Tropfen.

Die wachsende Anzahl der Bewohner und die dadurch notwendig gewordene Teilung der Wirtschaften machten die Landfrage immer ernster. Den Landlosen gab die Gemeinde in beispielvoller Weise ohne Ausnahme einen Hofplatz, was die Spannungen zwischen Reichen und Armen milderte. Eine Lösung suchte man im Handwerk, doch gewann dieses in Kulm keine Bedeutung. So blieben nur die binnendeutsche Abwanderung und die Auswanderung nach Übersee. In allen Tochtergemeinden Bessarabiens fand man Kulmer, so z. B. in Eigenheim, Benkendorf, Mannsburg und anderen. Die Kulmer kamen hier gut vorwärts und stellten tüchtige Wirte. Die Auswanderung nach Übersee führte nach Kanada und nach den Vereinigten Staaten, wo sogar eine Gemeinde von Kulmern gegründet wurde und "Kulm" heißt.

Kulm blieb eine Bauerngemeinde und hätte dem Handwerk und Handel eine Startmöglichkeit mit einem Griff unter den Strohsack geben können. Es gab trotzdem nur sieben Tischler, fünf Schmiede, zwei Schuster, einen Schneider und zwei Maurer. Auch die Industrie kam nicht vorwärts. Es gab eine Dampfmühle und eine Zementziegelfabrik. Im ,Jahre 1872 waren noch elf Wind- und sieben Pferdemühlen vorhanden. Ein Konsumladen mit einer "Milchfarm", zwei Privatläden des Andreas und Rudolf Necker vertraten den Handel. - Die Kulmer haben es aber verstanden, diesen in ihrer Hand zu behalten.

Kirche KulmKirchlich gehörte Kulm zu den Mustergemeinden. Der Gottesdienst wurde am Anfang im Freien und in den Häusern gehalten. 1831 wurde aus Stein ein geräumiges Bethaus gebaut, das 1868 in ein "Gemeindemagazin" umgebaut wurde und als solches bis 1925 diente. In den Jahren 1865 bis 1868 erfolgte der Bau der Kirche. Das Kapital wurde seit 1852 gesammelt; 1860 brachte eine freiwillige Sammlung 2000 Rubel, das, ausgeliehene Geld trug Zinsen. Der Kostenanschlag von 10713 Rubel stieg bei der Vollendung auf 14.000 Rubel. Am 20. Oktober 1868 wurde die Kirche eingeweiht. Sie hatte genug Raum für die damals 1700 Seelen zählende Gemeinde. Am Bau haben 2234 Handfröner gearbeitet und außerdem hat die Gemeinde 130.000 Werst Fronfuhren gestellt. So bauten die Einwanderer Kirchen und Schulen ohne jegliche Hilfe vom Staat. Dazu hatten sie noch die Gehälter für den Pastor und die Lehrer aufzubringen. Nur zwei Gemeinden, Arzis und Tarutino, standen Einnahmen aus Grundstücken zur Verfügung.

Wenn zwei junge Menschen den Wunsch hatten, den heiligen Bund der Ehe einzugehen, musste das verlobte Paar drei Wochen vor der Hochzeit im Pferdewagen zum Pastor nach Tarutino (da Kulm in dieser Zeit keinen ansässigen Pastor hatte). Der Pastor unterzog das junge Paar einer strengen und schwierigen Prüfung über den Kattechismus um ihren christlichen Glauben zu überprüfen. Hierbei wurde auch festgestellt, ob sie noch ledig waren. Falls dies nicht der Fall war, hatten sie eine Geldstrafe in die Kirchenkasse zu zahlen. Für das verschweigen einer Schwangerschaft, wurde die Strafe verdoppelt.
Einer künftigen Braut, die nicht mehr ledig war, wurde das Privileg, die Symbole der Reinheit, einen Blumenkranz und einen Schleier zu tragen, nicht gestattet. Öffentlich wurde eine Hochzeit an den drei folgenden Sonntagen bekannt gegeben.
Am Abend nach der Überprüfung des Brautpaares durch den Pastor, gab der Bräutigam eine Familienfeier im engsten Kreis mit den Eltern.
In den späteren Jahren (von Oktober 1939 bis Oktober 1940), als Kulm seinen eigenen Pastor hatte, wurden diese Formalitäten direkt im Ort erledigt.
In den drei Wochen vor der Hochzeit, wurde besprochen und geplant, wann und wo die Hochzeit stattfinden sollte. Normalerweise stimmte der älteste Sohn zu, die Feier an dem Ort mit dem meisten Platz zu veranstalten. Üblicherweise fand die Feier im Haus der Brauteltern statt. (Kulm hatte kein Hotel oder Festsaal). Vor dem I. Weltkrieg wurden Hochzeiten über zwei Tage hinweg gefeiert, nach dem Krieg unter Rumänischer Herrschaft nur noch einen Tag.
Die erste Pflicht für das Brautpaar war es die Hochzeitsattendanten, einer aus der Familie der Braut und einer aus der des Bräutigams, zu suchen. Die Hochzeitsattendanten mussten alle Gäste mit einer speziell vorbereiteten Rede einladen; in jüngster Zeit wurden aber immer mehr gedruckte Einladungen verteilt.
Jeder Attendant erhielt vom Brautpaar einen mit einem Blumenkranz und verschiedenfarbigen Bändern geschmückten Stock. Die Brautjungfern banden noch weitere Bänder an.

In der Schule war leider kein besonderer Drang zu den Quellen der Weisheit festzustellen. Bis 1831 hielt man den Schulunterricht in einem gepachteten Hause, und man begnügte sich auch mit Männern oder Bauern, die des Lesens und Schreibens mächtig waren. Aushilfelehrer haben sich neben dem ausgebildeten Lehrer noch lange einer guten Nachfrage erfreut. 1831 wurde die erste Schule erbaut und schon 1842 durch eine geräumigere ersetzt. Im Jahre 1895 wurde die letzte Schule erbaut und 1910 mit drei und später mit vier Unterrichtsräumen versehen. 1926 entstand durch Umbau "des Schnapsmonopols" noch ein Klassenraum und eine Lehrerwohnung. Durch weiteren Umbau des alten Schulgebäudes von 1895 kamen zwei Lehrerwohnungen hinzu. Kulm hatte im ganzen fünf Klassenräume und drei Lehrerwohnungen bei einer Schülerzahl von 260 Kindern. Der Schulbesuch war anfangs sehr schwach. Von Hause fehlte es an dem Anhalten der Kinder zum Schulbesuch. Dadurch hatten die Lehrer bei der wachsenden Schülerzahl - 1870 bis 1890 schon 300 Schüler - keinen leichten Stand. Es ging trotz aller neuzeitlichen Unterrichtsmethoden nicht ohne Rutenhiebe. Kulm hatte sowohl unter den Küsterlehrern als auch unter den übrigen Lehrern tüchtige Kräfte. Wir denken nur an: Immanuel Frey, später Professor in Moskau, an Oskar Koch und David Treichel, den Verfasser der Chronik. - Auf höhere Bildung legte man in Kulm nicht viel Wert. Ein Mittelschüler, Gottlieb Graumann, brachte es zum russischen Oberst. Das Gymnasium zu Tarutino besuchten zwei Schüler, von denen einer Arzt wurde.

Von Anfang an hatte Kulm eine eigene Dorfverwaltung mit dem Dorfschulzen an der Spitze. - Seit 1872 bildete es auch ein Gebietsamt. Es war somit für strenge Einhaltung der Ordnung gesorgt. Wie in der Schule, gab es auch hier keinen Pardon. Die von General Insow eingeführte Ordnungsstrafe wurde mit Fleiß geübt. Der erste Schulz war Martin Wegner (1815 bis 1818); keiner wäre bis zum Schluß zu nennen, der die ihm aufgetragene Pflicht nicht ernst genommen hätte. Das gilt auch von den Oberschulzen, vom ersten: Christian Lobe (1872 bis 1873) bis zum letzten: Christian Lobe (1917 bis 1919). - Unter den in der rumänischen Zeit amtierenden Primaren seien Nathanael Leischner, Otto Stelter und Otto Hintz genannt, die sich auch in kirchlicher Hinsicht verdient gemacht haben. Von den Notaren in der Zeit bis zur Umsiedlung wollen wir Daniel Wölfle nicht vergessen, der sein weltliches Amt ebenso wie seine kirchliche Hilfeleistung als Pfund aus Gottes Hand verwaltete.


Quellen:

1. Villwock, Stefan (2004): "Kurze Geschichte der Gemeinde Kulm": http://www.villwockweb.de/ahnen/besdkulm.htm (Verfaßt von Küsterlehrer David Treichel 1932) [Stand: 26.04.2012]